Alle würden dich für meinen Mörder halten, wenn ich da runterfiele

Nun stand sie da,der Wind zerzauste ihr rotblondes Haar. Die Möwen schrien kaum hörbar durch den heulenden Sturm, der um sie wütete. Sie war sich sicher, sie würde springen, sie würde dem Ganzen ein Ende setzen. Soll er doch zusehen wie er damit leben kann. Er hätte sich im Klaren sein müssen, was passiert, wenn er seine Sekretärin zum Essen ausführt. Er hätte sein Hemd selber waschen sollen, aber stattdessen hat er so getan als wenn nichts wäre. Der rote Lippenstiftabdruck, der sich auf dem Hemdkragen abzeichnete und volle, weiche Lippen vermuten ließ, genau dieser Abdruck lächelte sie höhnisch an. Der Geruch von Channel No. 5 liegt ihr bei dem Gedanken immer noch in der Nase, ob sie mehr Sympathien für das Parfum hegen würde, wenn nicht ihre Ehe auf dem Spiel stünde? Regen prasselte auf sie nieder. Ihr schwarzer Mantel, den sie sich erst im Frühjahr gekauft hatte wurde immer schwerer, als er sich mit dem Wasser voll sog. Hundert Meter unter ihr schlugen immer größere Wellen an die kahle Felswand und die Gischt tänzelte auf ihnen. Wie konnte das Wasser unter ihr so gefährlich sein, es sah doch so harmlos aus. Sie wollte sich einfach fallen lassen, im weißen Schaum verlieren, sich von ihren Problemen und Sorgen rein waschen. Doch der kalte Regen, der ihr ins Gesicht peitschte, holte sie in die Realität zurück. Ihr Make-up verlief und sie spürte, wie ihr die Tränen über das schon nasse Gesicht liefen. Sie spürte, dass sie jemand beobachtete. Sie wusste, er stand hinter ihr. Es war schon fast beängstigend, jemanden in der Nähe zu spüren. Der Wind, der vom Meer kam, und der Regen, der immer stärker wurde, konnten das Gefühl jetzt und hier nicht allein zu sein nicht verdrängen. Nach sieben Jahren Ehe entfernten sie sich immer mehr voneinander und doch wusste sie, dass er immer näher kam. Schließlich stand er so nah hinter ihr, dass sie trotz des stürmischen Wetters seinen Atem an ihrem Hals spürte. Er war ihr gefolgt, aus dem über hundert Kilometer weit entfernten, spießigen New Radford. Ein Familienhaus neben dem anderen, in deren Vorgärten man sonntags die Familienväter mit der Nagelschere den Rasen stutzen sah. Dort wohnten sie seit acht Jahren, kinderlos. Ob sie jetzt hier stehen würde, wenn sie Kinder hätten? Hätte er sie betrogen, wenn sie eine glückliche, durchschnittliche Familie wären, in einer britischen Kleinstadt, die perfekt die Kulisse eines Schnulzenromans sein könnte? Die starke Hand, seine starke Hand, die sie nun an ihrem rechten Oberarm spürte holte sie aus ihren Träumen zurück. Sie stand nur noch einen Schritt von der Erlösung entfernt. Würde sie jetzt diesen einen Schritt wagen, wäre er wohl kaum in der Lage sie zu halten. Er müsste mit ansehen, wie seine Frau sich den ungebändigten Wellen entgegen fallen ließe. Würde ihm klar werden, was er angerichtet hatte? Würde er es bereuen mit seiner Sekretärin ausgegangen zu sein? Oder wäre er so gefühlskalt, wie er seit langem ihr gegenüber ist? Könnte er es tatsächlich fertig bringen sein Leben ohne jegliche Einschränkungen weiter zu leben? So viele Fragen geisterten durch die dunkle Leere in ihrem Kopf. Fragen, auf die sie wohl nie eine Antwort bekommen würde. Zu oft hatte sie nach dem Warum gefragt, aber er hatte sie jedes Mal ignoriert, hatte sie stehen lassen, alleine. Nun erst bemerkte sie, dass er leise, kaum zu vernehmen, mit ihr sprach. Es war eher ein Bitten, ein Flehen. "Spring nicht, lass mich nicht alleine!" Sie solle ihn nicht alleine lassen? War er es nicht, der die belogen und betrogen hatte? Hatte er sie nicht alleine gelassen? Und jetzt flehte er sie doch tatsächlich an zu bleiben. Weiter allein zu bleiben. Jetzt wollte er ihr auch noch die Erlösung nehmen. "Ich weiß, ich habe dich ignoriert und ich hätte das nicht tun soll'n. Aber ich kann es nicht wieder rückgängig machen. Ich liebe dich doch!" Er liebt sie? Dachte er wirklich es wäre damit getan, wenn er ihr sagte, dass er sie liebte? Sie hatte ihren Entschluss gefasst und niemand würde sie davon abhalten können! Wie oft hatte sie als Kind davon geträumt fliegen zu können. Es war ein Traum, der sich nun endlich erfüllen sollte. Ein Blitz durchzog mit unendlichen Verästelungen den dunklen Horizont. Die Möwen waren nicht mehr zu hören. Sie setzte ihren Fuß ins Nichts und flog.
Antje Steinmann, 21. Januar 2008